Seit vielen Jahren lese ich den Nekrolog der deutschen und der englischen Wikipedia. Die meisten Einträge widmen sich Menschen, die viele Jahrzehnte Zeit hatten, um populär genug für einen Artikel in der Enzyklopädie zu werden. Relativ selten finden sich Einträge für junge Leute. Ich führe keine Statistik, aber mir scheinen das vorwiegend Sportler zu sein, die bei Verkehrsunfällen gestorben sind.
Bisher nur ein einziges Mal bin ich im Nekrolog auf eine Künstlerin gestoßen, die mich seither begleitet: Lhasa de Sela. Sie starb 2011 im Alter von nur 37 Jahren an Brustkrebs und hinterließ der Welt drei fabelhafte Alben, die sich in einem Plattenladen wohl unter Weltmusik finden: La Llorona (1997), The Living Road (2001) und Lhasa (2010). Auf dem ersten sind alle Lieder Spanisch, auf dem zweiten Spanisch, Englisch und Französisch, und auf dem dritten ausschließlich Englisch. Lhasa, die ihren ungewöhnlichem Namen ihren Hippie-Eltern verdankte, die mit ihren Kindern in einem VW-Bus quer über den amerikanischen Kontinent zogen, war ein Tausendsassa: Sie beherrschte alle drei Sprachen fließend, spielte selbst kein Instrument und hatte abgesehen von Gesangsstunden auch keine formelle musikalische Ausbildung. Ihre Mutter Alexandra unterrichtete sie und ihre Schwestern zu Hause, wo auch immer das gerade war, und Lhasas Collegeausbildung blieb ein kurzes Unterfangen.
She left after the first semester, uninterested in deconstructing and analyzing texts. Lhasa didn’t want to conduct a postmortem on the bones and sinew of a story; she read to swim in their beauty and mystery.1
Sie stieg nach dem ersten Semester aus, desinteressiert am Dekonstruieren und Analysieren von Texten. Lhasa wollte keine Autopsie an den Knochen und Sehnen einer Geschichte; sie las, um in ihrer Schönheit und ihrem Geheimnis zu schwimmen. [Meine Übersetzung]
Lhasa zog nach Montreal, wo sie eine Reihe talentierter Musikerinnen und Musiker kennenlernte und Mitte zwanzig ihr erstes Album veröffentlicht. Benannt nach einer Frau der mexikanischen Mythologie, wurde La Llorona sowohl in Kanada als auch in Europa ein Erfolg. Allein in Frankreich verkaufte sie 300 000 Platten.2
Dorthin zog es sie schließlich auch persönlich. Ihre Schwestern betrieben in Frankreich einen Zirkus, dem sie sich anschloss. Gemeinsam mit ihnen erarbeitete sie ein Programm, in dessen Rahmen sie auch „La marée haute“ („Die Flut“) sang, während eine der Schwestern in einem selbstgezimmerten Boot durch die Lüfte schwang. Das Lied bildet einen der Grundsteine für ihr zweites Album, bis zu dessen Fertigstellung allerdings noch einige Jahre vergehen sollten.
Lhasas Alltag und ihr Denken scheinen in der Biografie von Fred Goodman durchwirkt von Magie: Zeit ihres Lebens war Lhasa fasziniert vom I Ging, einem chinesischen Orakel, das sie täglich befragte. Ebenso begeistert war sie von der Idee der Synchronizität, der Annahme eines tieferen Zusammenhangs hinter kleinen Zufällen und Stichwortverbindungen im Alltag. Benannt nach der tibetischen Hauptstadt, dem „Götterort“ Lhasa, führte sie bis zuletzt besonders mit ihrem zutiefst spirituellen Vater Alejandro Gespräche über existenzielle Fragen.
Eine Romantikerin durch und durch, sehnte sie sich lange Jahre nach Liebe und dem idealen Mann. Als sie dann einen Partner gefunden hatte, mit dem sie eine Familie gründen wollte, bekam sie die Diagnose Krebs. Eine Zeit lang nahm sie die Erkrankung nicht ernst genug, schwor auf alternative Methoden und Optimismus. Sie nahm ihr letztes Album auf und plante bereits die darauffolgende Tour. Ihre Kräfte schwanden jedoch täglich. Schlussendlich griff sie zu schulmedizinischen Mitteln, die zwar wirkten, aber leider zu spät kamen. Am Neujahrstag 2011 verstarb sie nach qualvollen Monaten. Jahre zuvor schrieb sie „I’m Going In“, das Teil ihres letzten Albums wurde – als hätte sie geahnt, dass mit ihr etwas nicht stimmte.
Nicht nur ich stieß erst nach ihrem Tod auf sie. Auch ihr Biograph Fred Goodman, der 2019 das sehr lesenswerte Buch Why Lhasa de Sela Matters veröffentlicht hat, lernte ihre Musik erst kennen, als er sie nicht mehr persönlich interviewen konnte. In den Vereinigten Staaten konnte sie nie an die kanadischen und europäischen Erfolge anknüpfen. Die fremden Sprachen, die mythologischen Bezüge: Lhasa war ein Gesamtpaket, das sich dem US-amerikanischen Markt nicht erschloss.
Einer ihrer letzten Live-Auftritte erschien 2017 unter dem Namen Live In Reykjavik. Das Album, das wie ihre anderen Titel auf Soundcloud verfügbar ist, setzt der intensiven Performerin ein eindrucksvolles Denkmal.
1 Fred Goodman, Why Lhasa de Sela Matters, Austin: University of Texas Press 2019 (= Music Matters), 37.
2 Tom R. Schulz, Jedes Lied ein Film, manchmal ein Gebet, Zeit Nr. 14, 25.03.2004.
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