Die Bibel verstehen II
Eine Partitur ist Wikipedia zufolge “eine Aufzeichnung mehrstimmiger Musik in Notenschrift, bei der die einzelnen Stimmen übereinander angeordnet und mit senkrecht durchlaufenden Taktstrichen verbunden sind.” Selbst wenn man sich für unmusikalisch hält, wird man doch eine Partitur erkennen und in der Regel von einem Buch wie der Bibel unterscheiden können. Allerdings haben die beiden mehr gemeinsam, als es auf den ersten Blick scheint, und es vertieft und verfeinert unser Bibelverständnis, wenn wir sie einmal als Partitur betrachten. Vergleichen wir die beiden hinsichtlich einiger Fragen.
Was kann man damit machen?
Partitur // Bibellesen
interpretieren, d.h. allein oder mit anderen singen, spielen, tanzen
man kann sie interpretieren im Sinne von analysieren und/oder „praktizieren“
Man kann eine Partitur am Sofa sitzend lesen, ohne ein Instrument in der Hand und ohne die Stimmbänder zu bemühen. Wer musikalisch versiert ist, wird die Zeilen auch in seinem Kopf zum Klingen bringen und sich dabei vielleicht überlegen, ob das Stück zu schwierig ist für die eigenen Fähigkeiten, oder bewundern, wie raffiniert hier komponiert wurde. In jedem Fall ist klar, dass sich der ganze Sinn einer Partitur nicht allein auf dem Sofa sitzend erschließt – sie will praktiziert werden.
Eine Partitur zur Aufführung zu bringen macht aus einem Stück Papier ein musikalisches Ereignis, das dann Anlass geben kann zu weiteren künstlerischen Ausdrucksformen wie Tanz. Es erfordert einiges Know-how und Training, schwarze Punkte in Wohlklang zu übersetzen. Auch wer die Partitur nicht kennt wird hören, wenn die Töne nicht getroffen werden und die einzelnen Stimmen nicht harmonisch zueinander finden. “Ich weiß ja nicht, wie es klingen sollte, aber das kann nicht gepasst haben.”
Mit dem Bibellesen ist es ebenso. Natürlich kann man es allein auf dem Sofa sitzend machen, auch wenn das auf die letzten zweitausend Jahre gesehen eine noch sehr junge Entwicklung ist. Man verdankt die Texte trotzdem vielen Menschen, und sie warten darauf, allein und in Gemeinschaft mit Leben gefüllt zu werden. Die Fähigkeit zu lesen wird dafür auch nicht ausreichen: Man muss sein Instrument beherrschen, in dem Fall wohl Leib und Seele, um die Bibel zum Klingen zu bringen. Und dann werden selbst wenig Bibelkundige hören, wenn etwas ganz und gar nicht stimmt. “Ich bin mir auch nicht immer sicher, wie ein Text gemeint ist, aber das klingt irgendwie seltsam.”
Wen braucht es dazu?
Partitur // Bibel: Musikerin / Dirigentin / Komponistin / Musikologin / Tanzlehrerin / Choreografin weitere mehr oder minder musikalische Personenmindestens einen, der sie lesen und anderen vermitteln kann. Die anderen brauchen Grundfertigkeiten, um (unter Anleitung) entsprechend „praktizieren“ zu können
Es gibt Stücke für einzelne Personen. Aber selbst wenn sie alleine dastehen und ins Saxophon blasen, verdanken sie ihre Fertigkeiten und nicht zuletzt die Partitur selbst anderen Menschen. In anderen Fällen muss die Partitur selbst durch mehrere, vielleicht durch ein ganzes Orchester, zum Klingen gebracht werden, um ihr volles Potential zu entfalten. Manche Stücke tragen schon im Titel den Namen eines Tanzes wie Walzer oder Cha-Cha und wollen aufs Parkett gebracht werden. Selten tanzen dabei die Musikanten selbst.
Das volle Potential einer Partitur können in der Regel nur Geübte wirklich ausschöpfen. Beim Neujahrskonzert sind z.B. ausnahmslos Vollprofis am Werk. Es gibt niemanden, der das Stück nicht hervorragend kennt und sein Instrument auf höchstem Niveau beherrscht. Zusammen mit den Dirigenten, den Regisseurinnen der Filmeinspielungen sowie den darin auftretenden Tänzerinnen und Tänzern ergibt das ein Ereignis, das dem Neujahrstag für viele weltweit großen Charme verleiht.
Auch die Bibel ist das Produkt vieler Menschen, die diese Texte wohl nicht geschrieben haben, damit wir sie im stillen Kämmerlein lesen und denken: “Wow, Weltliteratur!” Die Bibel hat immer mehrere Leute vor Augen, in der Regel eine ganze Gemeinschaft, deren Leben sie inspirieren will. Wie das dann konkret aussieht – dafür finden sich Beispiele und Anhaltspunkte. Aber der Text der zehn Gebote selbst ist noch kein funktionierendes Zusammenleben, so wie die Aneinanderreihung von Noten am Papier kein ganzer ChaCha ist. Um zur Bibel einen flotten Foxtrott hinzulegen, muss man nicht selber Exegetin oder Priester oder begnadete Mystikerin sein; es reicht, man selbst zu sein, blühen zu wollen und ein offenes Ohr zu haben für die biblischen Musikologen, Dirigenten und Choreographinnen. Schließlich wird auch hier niemand im Alleingang das Neujahrskonzert auf die Beine stellen.
Wozu macht man das?
Partitur // Bibel: Information, Unterhaltung, Selbsterkenntnis, Optimierung von Fähigkeiten… Ein Zehnjähriger spielt manche Stücke nur, um flinkere Finger zu bekommen.
Eine Theologiestudentin übersetzt manchen Vers nur, um eine bestimmte Verbform zu lernen.
Eine Professorin für Musikwissenschaft holt eine Partitur aus dem Archiv, um zu überprüfen, ob sie sich richtig erinnert, bevor sie ihren wissenschaftlichen Artikel abschickt.
Ein Exeget zitiert eine Stelle aus dem Buch Levitikus, um sie im Kontext anderer altorientalischer Reinheitsvorschriften zu verstehen.
Eine junge Frau besorgt sich die Noten zu ihrer Lieblingsfilmmusik, um sie daheim am Keyboard zu üben.
Ein junger Mann findet am Flohmarkt eine Bibel und stellt sie zu Hause neben den Koran und das Evangelium des Fliegenden Spaghetti Monsters. Er liest nichts davon.
Zum Blühen bringen
An sich macht niemand etwas falsch – die genannten Personen haben unterschiedliche Absichten, die für ihre Belange auch bestens passen. Im ersten Text meiner Serie “Die Bibel verstehen” habe ich allerdings von einem “richtigen” Bibelverständnis gesprochen. Was bedeutet noch einmal “richtig”?
Mit “richtig” meine ich einen Umgang, der gleichzeitig die Bibel als antike Bibliothek und den heutigen Menschen sachgemäß behandelt. Einen solchen sachgemäßen Umgang bezeichne ich als “zum Blühen bringen”. Auch Musik tut das aus meiner Sicht und entspricht damit sich selbst und den Menschen zutiefst.
Machen Musik und die Bibel die Menschen also besser? Eine gefinkelte Frage, der ich mich in meinem nächsten Text widmen werde.
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