Die Bibel als Kompost

Die Bibel verstehen VI

Was sollen wir tun? Die Frage der Frau aus meinem dritten Beitrag ist eigentlich noch nicht beantwortet.

Ich habe festgehalten, dass die Bibel in den seltensten Fällen Handlungsanweisungen gibt, und wir ihnen, wenn sie das tut, oft seit langem nicht mehr Folge leisten (Stichwort: Tieropfer). Ich habe erklärt, dass sie uns zum Blühen verhelfen will und in sich ein farbenfrohes Mosaik verschiedenster Stimmen ist. Aber wie kommen wir jetzt vom Lesen ins Handeln? Indem wir die Bibel kompostieren.

Der kollektive Komposthaufen der Menschheit

Auf das Bild des Komposthaufens bin ich bei Neil Gaiman gestoßen, einem der aktuell erfolgreichsten Autoren weltweit. In seinem Essay Some Reflections on Myth (with Several Digressions onto Gardening, Comics and Fairy Tales) beschreibt er Mythen als Stufe eines natürlichen, vitalen Verfallsprozesses von Erzählungen: Zuerst formen Geschichten das Rückgrat von Religion, dann werden sie nicht mehr geglaubt und zerfallen zu Mythen, die dann wiederum den Kompost bilden, auf dem weitere Geschichten wie Wildblumen blühen. So wächst aus der Erde von Amor und Psyche schließlich Die Schöne und das Biest.

Ich bin nicht sicher ob Geschichten jemals in einer Weise geglaubt werden sollten, wie er sie hier beschreibt. Ein gewisses Für-Wahr-Halten ist in meinen Augen eher eine Versuchung, der die Menschheit regelmäßig erliegt, die aber noch nie dem Sinn der großen alten Erzählungen entsprochen hat. Schon Origenes lamentiert im 3. Jh. n. Chr.:

Wer ist ferner so einfältig, zu glauben, daß Gott nach Art eines landbauenden Menschen ein Paradis in Eden gegen Morgen gepflanzt, und einen sichtbaren und genießbaren Baum des Lebens darein gesetzt habe, […] so glaube ich, wird Niemand zweifeln, daß dieß bildlich, unter einer scheinbaren nicht wirklichen, leibhaften Thatsache, einen geheimen Sinn andeute.

De Principiis, 4.2.9 (Origenes über die Grundlehren der Glaubenswissenschaft. Wiederherstellungsversuch von Dr. Karl Fr. Schnitzer, Professor an der Kantonsschule in Aarau. Stuttgart, Verlag Imle und Kraus, 1835.)

Abgesehen davon teile ich Gaimans implizite These von der Überwindung der Religion nicht. Es gibt sie de facto noch, die Religionen, gerade auch die alten, auch wenn sie zugegeben genau an diesem Problemfeld kranken: Dass sie ihre Urkunden in einer Weise festhalten und weitertradieren wollen, die einem fruchtbaren Verfallsprozess entgegensteht. Die sogenannten Buchreligionen ringen mehr oder minder erfolgreich mit der großen Spannung zwischen dem Festhalten und Loslassen der alten Erzählungen.

Der Komposthaufen des Einzelnen

Heute ist die Spannung insofern verschärft, als es nicht nur die gesamtmenschheitlichen Verfallsprozesse sind, die Gaiman beschreibt, sondern große alte Klassiker wie die Bibel auch durch die Hände und Organismen von Individuen gehen. Wir befinden uns in der weltgeschichtlich noch sehr jungen Situation, dass sich eine Putzfrau auf ihrem Heimweg von der Arbeit eine Bibel besorgen und sie dann am Abend auf dem Sofa lesen kann, während sie Chips isst.  

Auch Menschen, die die Bibel aus dezidiert religiösen Beweggründen lesen, können dies heute allein tun oder in Gruppen, ohne einen Priester zu Rate zu ziehen, der ihnen den Rahmen des Möglichen absteckt.

Das ist eine wunderbare Entwicklung. Aber gerade in religiöser Hinsicht gibt es, wie in den letzten Texten auch schon beschrieben, sinnvolle und weniger sinnvolle Herangehensweisen and die Urkunden des Glaubens. Auch hier nützt die Kompostmetapher.

In einem anderen Essay aus demselben Sammelband, A Speech to Professionals Contemplating Alternative Employment, wendet Gaiman sein Bild vom Komposthaufen auf die Leidenschaften an, die ein Einzelner hat. Nicht immer, schreibt er, könne man alles direkt verwenden, was einen interessiert und was man aufgesogen hat. Aber es werde in jedem Fall Teil des inneren Komposthaufens, wo es halbvergessen, halbvermodert liegt und irgendwann vielleicht zu etwas sehr Nützlichem wird.

Gut verdaute Bibeltexte

Genau das halte ich für gelungene Bibellektüre: Das Aufnehmen, Wiederkauen und Verdauen der Texte – sie einmal durch den ganzen Organismus zu schicken. Abwarten, welche Elemente er davon aufnimmt, wozu er sie auseinander- und wieder zusammenbaut. Schauen, was herauskommt, und wie ich handle, wenn mich die Erzählungen von innen heraus prägen.

Das ist alles andere als ein harmloses abstraktes Bild. Im Rahmen meiner Diplomarbeit und meiner Dissertation habe ich mich insgesamt fünf Jahre lang mir 23 Versen des Alten Testaments beschäftigt. Daraus resultierte nicht nur die Lektüre hunderter wissenschaftlicher Artikel und dutzender wissenschaftlicher Bücher, sondern auch eine existenzielle Auseinandersetzung mit dem Text, wie ich sie nicht für möglich gehalten hätte. Er wurde mir immer vertrauter, und ich mir in seinem Spiegel immer fremder – ein Dialog setzte ein, den ich weniger mit Worten als mit meinem ganzen Leben führte.

Der wissenschaftliche Text, den ich am Ende veröffentlicht habe, zeugt nicht von den immensen Umwälzungen, die in meinem Leben vonstatten gingen. Er ist, wie es dem Genre entspricht, unpersönlich. Aber das Inferno, das die Bibellektüre in meinem Leben entfacht hat, war der wesentlichste Grund, die Wissenschaft zu verlassen: Ich schätze das wissenschaftliche Instrumentarium sehr hoch und plädiere leidenschaftlich für seine Nutzung. Was mich jedoch bewegt und was ich Menschen ermöglichen möchte, ist ein Weg zur existenziellen Auseinandersetzung, in der die Wissenschaft eine Rolle spielt.  

Kurz: Ich will die Bibel so mit den Leuten ins Gespräch bringen, dass allenthalben fruchtbare Komposthäufen entstehen, auf denen Wildblumen blühen. Ironischerweise kommt der größte Mist nämlich dann heraus, wenn Bibeltexte schlecht verdaut sind.

Neil Gaiman, Some Reflections on Myth (with Several Digressions onto Gardening, Comics and Fairy Tales), in: The View From The Cheap Seats, William Morrow 2016, 54-63 (Erstveröffentlichung 1999).

Neil Gaiman, A Speech to Professionals Contemplating Alternative Employment, in: The View From The Cheap Seats, William Morrow 2016, 238-252 (Erstveröffentlichung 1997).


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